Unfälle mit Radfahrern Konfliktzone Kreuzung

Hans-Dieter Seufert Foto: Hans-Dieter Seufert

Moderne Abbiegeassistenten können helfen, Abbiegeunfälle zu verhindern, sie sind aber kein Allheilmittel. Braucht es stattdessen eher mehr Rücksicht? In der 60. Sendung von FERNFAHRER Live sprechen wir mit Stefanie Ritter von der DEKRA-Unfallforschung.

In der 60. Sendung von FERNFAHRER Live geht es um das schwierige, oft lebensgefährliche Nebeneinander von Lkw- und Radfahrern im Straßenverkehr vor allem in den Städten. Von einem Miteinander kann mittlerweile nicht mehr die Rede sein. Die Zahl der Unfälle zwischen rechtsabbiegenden Lkw und Radfahrern, die weiter geradeaus fahren wollen, steigt nach Medienberichten wieder an. Doch in einer politisch einseitigen Debatte pocht die Lobby der Radfahrer weiter nur auf ihre Rechte. Die in der Straßenverkehrsverordnung vorgegebene gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer gerät immer mehr ins Hintertreffen, auch weil die Bürger den Lkw immer mehr als Belastung sehen – und ihn am liebsten ganz aus den Innenstädten verbannen wollen. Das bekommen die Lkw-Fahrer immer öfter zu spüren.

Es reicht, dass sie nur einmal – meist nachgewiesen durch Sachverständige – nicht in den jeweils richtigen Spiegel gesehen haben, und schon tragen sie die alleinige Schuld. Moderne Abbiegeassistenten, die helfen könnten, wenn auch nicht in jeder Situation, sind nach wie vor freiwillig. Und auch Radfahrer haben einen „Toten Winkel“, der zu Missverständnissen führen kann.

Dekra Foto: Dekra

Im Vorfeld der Sendung haben wir Dipl.-Ing. Stefanie Ritter (44) von der DEKRA-Unfallforschung zu einigen entscheidenden Punkte befragt:

Wie lauten die bundesweiten Zahlen zu Abbiegeunfällen mit Lkw und Radfahrern aus den Jahren 2019 und 2020?

Ritter: "Unfälle zwischen rechts abbiegenden Lkw und Radfahrern werden in der Statistik nicht explizit erfasst. 2019 wurden insgesamt 45 Radfahrer bei Unfällen mit Lkw über 3,5 t bzw. Sattelzügen innerorts getötet. Die Angaben, wie viele hiervon Unfälle mit rechts abbiegenden Lkw waren, schwanken wie in den Jahren davor zwischen 30 und 40. Das Corona-Jahr 2020 könnte interessanter werden: Es waren auf jeden Fall deutlich mehr Radfahrer in den Städten unterwegs, dafür aber – vor allem zu Beginn der Pandemie – weniger Lkw. Stark gesunken ist die Zahl jedoch nicht, da wir in der Unfallforschung mit Hilfe einer Online-Recherche bereits 25 tödliche Unfälle ermittelt haben."

In wie vielen Fällen hätte ein Abbiegeassistent helfen können?

"Die Auswertungen der Unfallforschung der Versicherer (UVD) gehen von rund 50 bis 60 Prozent aller Abbiegeunfälle zwischen Lkw und Radfahrer oder Fußgänger aus, die hätten verhindert werden können. Bisher können solche Daten nur theoretisch bestimmt werden, etwa durch eine Simulation oder Nachstellen des Unfalls, da die Abbiegeassistenten im Straßenverkehr noch nicht so weit verbreitet sind, dass sie schon einen spürbaren Einfluss auf das Unfallgeschehen haben.

Wichtig ist, dass der Abbiegeassistent den Fahrer bei einer Gefahr auch akustisch oder optisch rechtzeitig warnt. Nur ein Monitor, den der Fahrer dann noch zusätzlich zu den Spiegeln im Blick haben muss, ist eher eine weitere Belastung als eine Unterstützung. Die Assistenten sind daher ein wichtiger Baustein, um die Unfälle durch die Warnung des Fahrers zu verhindern oder die Folgen zu mildern. Der Lkw-Fahrer kann rechtszeitig bremsen und überrollt den Radfahrer nicht mehr. Ein Wundermittel, um die Unfälle in Zukunft komplett zu verhindern, sind sie jedoch auch nicht."

Welche Rolle spielen die sogenannten „holländischen Kreuzungen“ in Zusammenhang mit dem Abbiegeassistenten? Wo liegt hier die Gefahr?

"Um für mehr Sicherheit zu sorgen, wird an diesen Kreuzungen der Radverkehr vor der Über-führung vom parallel verlaufenden Kraftfahrzeugverkehr weg verschwenkt. Dies soll dazu führen, dass die Verkehrsteilnehmer sich besser wahrnehmen können und dass die Reaktions-zeiten verlängert werden. Es gibt jedoch keine eindeutige Norm, wie diese Kreuzungen gestaltet werden sollen und welchen Abstand Radfahrer und Lkw durch die Verschwenkung haben.

Abbiegeassistenten müssen einen Bereich von bis zu mindestens 2,5 m neben sich abdecken können. Die Assistenten können vermutlich noch „weiter schauen“, müssen es aber nicht können. Befindet sich also ein Radfahrer seitlich weiter als 2,5 Meter entfernt, muss er nicht mehr erkannt werden, natürlich immer vorausgesetzt, dass das System zuverlässig funktioniert. Auch können die Assistenten nicht durch Sichthindernisse wie Autos, Pflanzen oder Reklametafeln durchschauen und somit keine Radfahrer detektieren, die sich dahinter befinden. Je nach Verbauungsort können sie eventuell darüber hinweg schauen.

Man kann diese Kreuzungen nicht grundsätzlich als gut oder schlecht einordnen. Je nachdem, wie sie gestaltet werden, können sie gut funktionieren und die Wirkung des Abbiegeassistenten wird nicht beeinflusst. Es kann jedoch auch passieren, dass der Assistent wegen einer zu großen Distanz oder Sichthindernissen in seiner Funktion eingeschränkt ist."

Welche Rolle spielen mittlerweile E-Bikes im Unfallgeschehen?

"Bei DEKRA und auch in der Literatur gibt es noch keine fundierten Erkenntnisse, inwiefern sich E-Bikes auf das Unfallgeschehen mit rechts abbiegenden Lkw auswirken. Sie sind häufiger beteiligt, aber es sind auch deutlich mehr unterwegs. Ob ihre Eigenschaften wie die höhere Geschwindigkeit eine Rolle spielen, konnte noch nicht erforscht werden.

In den ersten E-Bike-Jahren konnten sich nur Senioren diese Räder leisten und die waren nicht viel schneller unterwegs als sonst auch. Erst in den letzten rund zwei Jahren wurden die Räder so günstig, dass sich auch viel Jüngere diese kaufen können. Diese Personengruppe ist dann auch schneller unterwegs. Allerdings muss erst einmal eine ausreichende Datengrundlage „produziert“ werden, die sinnvoll ausgewertet werden kann.

Aktuell und in den letzten Jahren gibt und gab es viele Neuerungen im Straßenverkehr, die sich erst in der Statistik und im Unfallgeschehen bemerkbar machen müssen. Hieraus ergibt sich dann für die Unfallforschung in nächster Zeit ein wichtiger Forschungsbedarf."

Welche Rolle spielt die gegenseitige Rücksichtnahme im Verkehr?

"Für mich ist es der wichtigste Punkt. Jeder Verkehrsteilnehmer – und auch die Technik - kann mal Fehler machen, und dann ist es gut, wenn ein weiterer Mensch mitdenkt und den Fehler vielleicht vermeiden kann. Man muss auch nicht immer auf sein Recht bestehen. Muss ich als Radfahrer rechts an einem stehenden Lkw vorbeifahren? Muss ich als Lkw-Fahrer kurz vor einer Ampel noch einen Radfahrer überholen und kann ihn nicht vor mir lassen?

Rücksichtnahme bedeutet auch, dass ich mich in den andern Verkehrsteilnehmer hineinversetzen kann und somit auch seine Probleme im Straßenverkehr erkenne. Kann sich jeder Radfahrer vorstellen, wie es sich anfühlt, mit einem großen Sattelzug innerorts abzubiegen? Ich mag da unsere Schulaktion, bei der wir Schulklassen direkt am Lkw den toten Winkel erklären. Auch gibt es sicherlich Lkw-Fahrer, die selten oder nie im Stadtverkehr Rad fahren und auch diese Probleme nicht kennen. Etwa den „Toten Winkel“ bei den Radfahrern."

Es gibt einen „Toten Winkel“ auch beim Fahrradfahrer?

"Ja, auch bei Radfahrern kann es einen „Toten Winkel“ geben, in dem er auch einen Lkw übersehen kann. Um zum Beispiel nach links abzubiegen, führt ein Radfahrer einen Schulterblick durch. Je nachdem, was er in seinem Gesichtsfeld erfassen kann, hier noch mit einer Einschränkung bei älteren Personen, und wie weit er sich nach links dreht, was nicht so weit ist, wenn beide Hände am Lenker bleiben, gibt es hinter ihm einen Bereich, den er nicht einsehen kann. Wenn sich ein Kraftfahrzeug mit etwas Abstand und vielleicht noch relativ weit rechts hinter ihm fährt, kann er es nicht erkennen.

Beim folgenden Kraftfahrzeugfahrer kommt es zum Missverständnis: Er sieht, dass der Radler einen Schulterblick durchführt und danach aber wieder etwas nach rechts fährt. Er geht davon aus, dass der Radfahrer ihn gesehen hat und ihn überholen lässt. Es kommt zur Kollision, da der Radfahrer den Kraftfahrer nicht gesehen hat und dieser angenommen hat, dass er erkannt wurde und überholen kann. Genauso übrigens, wie viele Radfahrer nach wie vor falsch einschätzen, dass ein Sattelzug, der rechts abbiegen will, erst etwas nach links ausholen muss. Beide Situationen sind Beispiele für gegenseitiges Verständnis und Rücksichtnahme."

Die Diskussionsrunde bei FERNFAHRER Live

Video zum Thema
Lkw und Fahrradfahrer gemeinsam auf einer Straße
Konfliktzone Kreuzung [RELIVE]

Bei FERNFAHRER Live diskutieren am 10. Juni 2021 mit uns neben Stefanie Ritter auch Fahrer Miroslav Schmied, der Erfahrungen mit den technischen Helfern in der Praxis hat, der Lkw-Fahrer Michael Zetzsche, der täglich Radfahrern begegnet und vor allem auf die richtige Einstellung der Spiegel vertraut, sowie der Erste Polizeihauptkommissar Sven Krahnert, ein begeisterter Radfahrer, der im Rahmen der Verkehrswacht Chemnitz immer wieder versucht, Aufklärungsarbeit über den „Toten Winkel“ zu leisten.

Unsere Experten
Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Götz Bopp, unser Experte für Sozialvorschriften im Straßenverkehr (Lenk- und Ruhezeiten) Götz Bopp Sozialvorschriften und Güterverkehr
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