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Darmkrebs Zugang zum Screening erleichtern und Risikopatient:innen früher erreichen

Autor: Dr. Daniela Erhard

Jeder achte Mensch im Alter zwischen 40–50 Jahren hat bereits Darmpolypen. Doch nur selten sind es fortgeschrittene Neoplasien. Jeder achte Mensch im Alter zwischen 40–50 Jahren hat bereits Darmpolypen. Doch nur selten sind es fortgeschrittene Neoplasien. © iStock/Mohammed Haneefa Nizamudeen
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Noch immer nehmen viel zu wenig Menschen das Darmkrebsscreening in Anspruch. Zwei Experten aus Forschung und Klinik erklären, wie man die Hürden des Screenings bezwingen könnte. Gelingt diese Optimierung nicht, muss man in den nächsten Jahrzehnten mit bis zu 40 % mehr kolorektalen Karzinomen rechnen.

Herr Prof. Brenner, wenn man früh mit den Vorsorge-Koloskopien beginnt, hat man ab 60 oder 65 Jahren keinen Anspruch mehr auf weitere Screenings. Bereitet Ihnen das Sorge?

Prof. Dr. Hermann Brenner: Das ist leider ein Schwachpunkt unseres insgesamt sehr guten Vorsorge­angebots. Die Koloskopie sowie der Stuhlbluttest sind sehr effektiv und der Durchführung in den Praxen kann man eine gute Qualität bescheinigen. Ohne Screening müssten etwa 5–10 % der Bevölkerung damit rechnen, im Laufe ihres Lebens an Darmkrebs zu erkranken.

Um die 3–5 % würden auch daran sterben. Mit dem Screening ließe sich die große Mehrheit der Erkrankungs- und Todesfälle vermeiden. Das ist ein Rieseneffekt, den man so leicht mit keiner anderen Maßnahme im Gesundheitswesen erreicht. Dafür müsste das Programm aber noch deutlich besser ausgestaltet werden.

Was sollte man denn verbessern?

Prof. Brenner: Zum einen müssen wir es den Menschen leichter machen, an der Vorsorge teilzunehmen. Es würden mehr Frauen und Männer das Angebot nutzen, wenn man sie anders anspräche. Alle fünf Jahre einen Einladungsbrief an die 50- bis 65-Jährigen zu versenden, wie das bisher geschieht, reicht sicher nicht aus – zumal das Begleitmaterial mit der Beschreibung der Untersuchung 25 Seiten umfasst und so geschrieben ist, dass die Mehrheit es gar nicht liest, geschweige denn versteht.

Ein weiteres Beispiel, wie sich mit einfachen Mitteln viel erreichen ließe, kommt aus den Niederlanden. Dort kann man ähnlich wie hier alle zwei Jahre einen Stuhlbluttest machen. Man bekommt ihn aber zugeschickt, kann ihn zu Hause machen und dann wieder einschicken. Nach dem Einsenden erhält man das Ergebnis.

Bei uns ist das viel umständlicher – mit der Folge, dass im Zweijahreszeitraum nur 20 % der Berechtigten den Test in Anspruch nehmen. In unserem Nachbarland sind es 70 %. Wir haben in einer Studie mit der AOK Baden-Würt­temberg das holländische Modell auch hierzulande ausprobiert und aus dem Stand heraus die Quote der Teilnehmenden verdreifacht.

Sie haben auch unterschiedliche Darmkrebs-Vorsorgeprogramme auf den Prüfstand gestellt und unser momentanes Screening modellierend mit möglichen Alternativen verglichen ...

Prof. Brenner: Ja, und das ist der zweite wichtige Aspekt, den Sie zuvor auch angesprochen haben: Unsere Modellrechnungen zeigen, dass man die Vorsorge erheblich verbessern könnte, wenn man Menschen, die mit 60 oder 65 Jahren ihre zweite Vorsorgekoloskopie hatten, in höherem Alter, ab 70 Jahren, noch einmal Vorsorge anbietet – entweder in Form einer dritten Darmspiegelung oder über Stuhlbluttests alle zwei Jahre.1

Würden Sie dieses Verfahren auch bevorzugt empfehlen?

Prof. Brenner: Ja. Dabei sollte man aber nicht nach starren Altersgrenzen vor­gehen, sondern eher das „biologische Alter“ und den individuellen Gesundheitszustand
berücksichtigen. Eine Faustregel besagt zum Beispiel, dass eine Vorsorge-Koloskopie dann sinnvoll ist, wenn die Lebenserwartung noch mindestens zehn Jahre beträgt.

Das ist bei einem 70-jährigen Menschen mit Vorerkrankungen nicht unbedingt der Fall, und auch das Komplikationsrisiko wäre bei der Koloskopie etwas höher. Ein Stuhlbluttest, um eine bereits bestehende Krebserkrankung früher erkennen und effektiver behandeln zu können, könnte aber durchaus noch Sinn haben. Andererseits gibt es viele sehr rüstige Senioren, bei denen nichts gegen eine weitere Vorsorge-Koloskopie spricht.

Ihren Berechnungen nach senkt die Vorsorge-Koloskopie mit 50 und 60 Jahren die Rate der Darmkrebs-Neuerkrankungen bis zum Alter von 75–80 Jahren wesentlich und ist bis dahin den anderen Screeningmethoden teils sogar überlegen – auch bei Frauen. Sollte man bei ihnen das Alter für die erste Vorsorge nicht ebenfalls herabsetzen?

Prof. Brenner: Die Darmkrebs-Inzidenz steigt mit dem Alter stark an, und das beginnt bei Männern schon etwa fünf Jahre eher als bei Frauen. Das war der Grund, Männern schon mit 50 die Vorsorge zu ermöglichen. Auf der Basis unserer Modellierungen würde ich allerdings auch dafür plädieren, das bei den Frauen genauso zu handhaben. Bei ihnen ist es aufgrund der längeren Lebenserwartung aber noch wichtiger, mit 70 Jahren weitere Vorsorgeangebote zu machen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass dies alles auch umgesetzt wird?

Prof. Brenner: Ich bin insofern zuversichtlich, als dass bereits andere Krankenkassen unser erfolgreiches Modell zum leichteren Testzugang, das ich vorhin erwähnte, übernehmen. Ich habe auch die Hoffnung, dass der G-BA die Ergebnisse zum erweiterten Screening aufgreift, die Einladungen zur Vorsorge in Zukunft wirkliche „Einladungen“ werden und das Angebot mehr genutzt wird als bisher.

Gleichzeitig macht mir die demografische Entwicklung große Sorgen. Allein durch den wachsenden Anteil älterer Menschen müssen wir in den nächsten Jahrzehnten mit 30–40 % mehr Darmkrebserkrankungen rechnen, wenn sich unsere Vorsorge nicht deutlich verbessert. Wenn wir wollen, dass die Zahl der Neuerkrankungen zumindest nicht steigt, müssen wir wesentlich mehr Menschen erreichen.

Prof. Möhler, Sie sehen die Konsequenzen ausbleibender Darm­krebs­vor­sorge täglich in der Klinik.­ Decken sich Ihre Erfahrungen mit dem, was wir gerade erfahren haben?

Prof. Dr. Markus Möhler: Die Empfehlungen aus der Studie sind in jedem Fall richtig. Auch die Teilnahme an den Vorsorgeprogrammen
muss besser werden. Wir erleben selbst, dass von den 55- bis 60-Jährigen nur wenige das Screening wahrnehmen: in den ersten zehn Jahren unter 40 % der Frauen und etwa 20 % der Männer.

Wir haben aber immer öfter junge Menschen, die von Darmkrebs betroffen sind. Und es ist unser Ziel, Hochrisikopatient:innen schon vor dem 50. Lebensjahr zu „erwischen“. Für uns ist also nicht nur entscheidend, die ältere Bevölkerung zu screenen. Auch junge Menschen brauchen gezielte Vorsorge.

Sie würden das Screening also noch stärker ausweiten? Auf welche Patient:innen?

Prof. Möhler: Da sind zum einen die Menschen, die hereditär betroffen sind – wenn also bereits ein anderes Familienmitglied an Darmkrebs erkrankt war. Das sind etwa 5–8 % aller Patientinnen und Patienten. Daneben haben Personen mit chronisch-entzündlichen Darmentzündungen (CED), Adipositas, Fettleber oder Diabetes ein höheres Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, als die Normalbevölkerung. Auf diese Patientinnen und Patienten zu achten, ist wichtig.

So gelten bei familiärem Darmkrebs oder CED andere Kriterien für den Zeitpunkt von Früherkennungskoloskopien. Wenn z.B. ein Verwandter ersten Grades sehr früh ein Karzinom aufweist, sollte die Früherkennungsuntersuchung in einem Lebensalter stattfinden, das zehn Jahre vor dem Alterszeitpunkt des Auftretens des Karzinoms beim Verwandten liegt, aber spätestens mit 40–45 Jahren. Das bezahlen auch die gesetzlichen Krankenkassen.

Noch besser zu erforschen sind zudem Gender-Unterschiede oder Tumorerkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund: Gynäkolog:innen können bei ihren Patientinnen den immunologischen Stuhltest (FIT) regelmäßig im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen mitmachen. Man muss aber wissen, dass Frauen öfter flache Karzinome rechtsseitig im Darm entwickeln, die eine schlechtere Prognose haben. Die findet man mit dem FIT allein nicht unbedingt. Und in unser Zentrum kommen besonders auch Personen mit Migrationshintergrund, die ein Kolorektalkarzinom haben und noch keine 50 Jahre alt sind.

Auch hier stellt sich wieder die Frage: Wie bekommt man die Menschen zur Vorsorge? Haben Sie hierfür noch andere Vorschläge?

Prof. Möhler: Im Moment wird der FIT noch wenig genutzt. Ja, wir sind hier anders organisiert als in den Niederlanden. Ich würde mir wünschen, dass die Hausärztinnen und Hausärzte diesen Test einfach öfter verteilen. Hier haben wir z.B. das BMBF-geförderte Programm DECIDE­, in dem wir Haus­ärzt:innen und Kliniken mit der Universitätsmedizin auch digital besser vernetzen wollen.2

Eine andere gute Option wäre, über die Betriebe zur Teilnahme an Screenings aufzurufen. In Rheinland-Pfalz haben große Firmen die Belegschaft erfolgreich getestet. Da könnte es weitere gemeinsame Bündnisse, u.a. mit der Stiftung Lebensblicke (www.lebensblicke.de), geben. Zudem haben wir viele gut organisierte Initiativen, wie die Felix-Burda-Stiftung, die Informationen zu Früherkennung oder gezielte Programme bereitstellen. Das ist auch für Ärzt:innen empfehlenswert.

Noch gibt es keine reguläre Vorsorge für junge Menschen. Wie lässt sich diese Gruppe dennoch besser mit einbeziehen?

Prof. Möhler: Wir können bei Risikofaktoren ansetzen und beispielsweise übergewichtige Männer und Frauen dazu animieren, sportlicher zu werden. Wir testen gerade in einem europäischen Projekt, wie effektiv Fitnessarmbänder mit individuellem Feedback sind (www.oncorelief.eu).

In der Praxis sollte man unbedingt auf Alarmzeichen achten, wie Stuhlunregelmäßigkeiten, Blut im Stuhl, Schmerzen bzw. Ziehen im rechten oder linken Unterbauch oder Unwohlsein einige Stunden nach dem Essen. Dann ist immer ein immunologischer Stuhltest  sinnvoll. Und im Zweifelsfall lieber eine Koloskopie mehr.

Falls Allgemeinmediziner:innen eine Darmspiegelung zur Abklärung verordnen möchten, kann das auch vor dem 55. oder 50. Lebensjahr der Patient:innen erfolgen. Bei auffälligen Stuhltests (und natürlich in der kurativen Versorgung) besteht prinzipiell Anspruch auf eine Koloskopie. Die Behandelnden entscheiden, ob und in welchen Zeitabständen die Untersuchungen notwendig sind.

Die AOK Nordost bietet ihren Versicherten die Möglichkeit, schon zehn Jahre früher als gesetzlich vorgesehen an einer Darmkrebsvorsorge teilzunehmen. Patient:innen sollten daher ihre Kasse fragen, ob sie die Vorsorgekoloskopie auch schon vor dem 50. Lebensjahr bezahlt.

Interview: Dr. Daniela Erhard

Quellen:
1.    Heisser T et al. Int J Cancer 2021; doi: 10.1002/ijc.33894
2.    bit.ly/bmbf_versorgungsqualitaet

Prof. Dr.  Hermann Brenner; Leiter der Abteilung Klinische Epidemiologie und Alternsforschung am DKFZ Heidelberg Prof. Dr. Hermann Brenner; Leiter der Abteilung Klinische Epidemiologie und Alternsforschung am DKFZ Heidelberg © DKFZ/Jutta Jung
Prof. Dr. Markus Möhler; Leiter der gastroenterologisch-onkologischen Ambulanz der Universitätsmedizin Mainz Prof. Dr. Markus Möhler; Leiter der gastroenterologisch-onkologischen Ambulanz der Universitätsmedizin Mainz © zVg