Beliebte Krankmacher? WHO rät von Süßstoffen ab, trotz dünner Datenlage – deutschem Experten geht das zu weit

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

3. Juli 2023

In einer neuen Richtlinie rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Verzehr von Süßstoffen aller Art ab [1]. Die Begründung: Süßstoffe helfen nicht beim Abnehmen, könnten aber bei dauerhaftem Konsum zu einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und sogar Tod beitragen. Doch die neuen Empfehlungen gründen auf dünner Evidenz.

„Ich war überrascht, dass die WHO so weit geht, zu sagen, dass man vollständig auf Süßstoffe verzichten sollte“, sagt Prof. Dr. Hans Hauner, Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München. „Natürlich kann man den Menschen predigen, dass sie generell weniger süß essen sollten und natürlich braucht niemand Zucker zum Leben, aber wir wissen auch, dass viele Menschen den Süßgeschmack mögen.“

Menschen wollen nicht auf süßen Geschmack verzichten

Bis zu 100 Gramm Zucker hatten auch die Menschen in Deutschland noch bis vor Kurzem täglich in ihrer Kost. Das hat sich mittlerweile etwas gebessert. „In vielen Teilen der Welt ist mittlerweile angekommen, dass zu viel Zucker ungesund ist“, so Hauner.

 
In vielen Teilen der Welt ist mittlerweile angekommen, dass zu viel Zucker ungesund ist. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Aber auf den süßen Geschmack wollen dennoch viele Menschen nicht verzichten, weshalb versucht wird, andere Wege zu finden, um Lebensmittel und Getränke zu süßen. Die Folge: Seit Jahren steigt die Nachfrage nach kalorienfreien Süßstoffen als vermeintlich gesündere Alternative zu Zucker. „Die Industrie, speziell die Getränkeindustrie, ist dahingehend sehr findig und will natürlich weiterhin ordentlich Geld verdienen“, betont Hauner.

Doch es mehren sich die Hinweise darauf, dass auch Süßstoffe gesundheitlich nicht unbedenklich sind. Das bestätigt auch der systematische Review, der den neuen Empfehlungen der WHO zugrunde liegt. Er umfasst die Daten von 283 randomisiert-kontrollierten Studien, prospektiven Kohortenstudien und Fall-Kontrollstudien und zeigt für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Risiken auf.

Risiken in verschiedenen Bevölkerungsgruppen

Erwachsene:

Bei Erwachsenen kann die Verwendung kalorienfreier Süßstoffe über kurze Zeiträume bis zu 3 Monaten demnach durchaus mit einem geringeren Körpergewicht und Body-Mass-Index einhergehen. Der kurzfristige Einsatz führt aber nicht zu einer Verbesserung anderer Indikatoren der kardiometabolischen Gesundheit wie etwa der Glukose- oder Insulinwerte. Die langfristigere Verwendung von Süßstoffen über Zeiträume von 6 bis 18 Monaten hat dagegen keinen Effekt auf das Gewicht.

In den analysierten Kohortenstudien, die die Teilnehmenden bis zu einem Jahrzehnt nachverfolgten, war die Verwendung von Süßstoffen mit einem erhöhten Risiko für Adipositas, Typ-2-Diabetes, verschiedenen kardiovaskulären Erkrankungen – auch Schlaganfall – und Tod assoziiert.

Eine generelle Assoziation mit einem höheren Krebsrisiko gab es nicht. Aber in einigen Fall-Kontrollstudien stand Saccharin in Zusammenhang mit Blasenkrebs.

Kindern:

Für Kinder stehen in der publizierten Literatur deutlich weniger Daten zur Verfügung als für Erwachsene. Basierend auf den vorhandenen Untersuchungen kommt der Review zu dem Ergebnis, dass Kinder Gewicht verlieren, wenn zuckerhaltige Getränke durch Light-Getränke mit Süßstoff ersetzt werden. Es gab keine Unterschiede beim BMI und auch keine Hinweise darauf, dass der Konsum von Süßstoffen irgendwelche gesundheitlichen Vorteile für Kinder hat.

Schwangere:

Ebenso wie bei Kindern sind auch die Daten zu Süßstoffen bei Schwangeren begrenzt. Ein höherer Konsum an Süßstoffen in der Schwangerschaft geht dem Review zufolge aber mit einem erhöhten Frühgeburtsrisiko einher. Ob der Süßstoffkonsum Auswirkungen auf das Gewicht des Nachwuchses bei der Geburt sowie später im Leben hat, ließ sich aus den Studien nicht ableiten.

Auf das Risiko für Gestationsdiabetes hatte die Verwendung von Süßstoffen keinen Einfluss. Aber Auswirkungen auf den Nachwuchs kann der Review nicht ausschließen: Der mütterliche Konsum war in Studien assoziiert mit einem erhöhten Risiko für Asthma, Allergien und eine geringere kognitive Funktion bei den Kindern.

Schwache Evidenz und kleine Effektgrößen

Allerdings, und das betont auch die WHO selbst, liegt den meisten dieser Befunde keine starke Evidenz zugrunde – und die Effektgrößen sind oft klein. Auch den potenziellen Effekt reverser Kausalität dürfe man nicht außer Acht lassen. Aus diesen Gründen bezeichnet die WHO ihre Richtlinie als „vorbehaltliche Empfehlung“.

„Ich wäre basierend auf diesen Daten nicht so weit gegangen, vollständig von Süßstoffen abzuraten“, betont Hauner. „Die abgeleiteten Erkenntnisse stehen auf wirklich sehr dünnen Beinen.“

 
Die abgeleiteten Erkenntnisse stehen auf wirklich sehr dünnen Beinen. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Untersucht man die potenziellen gesundheitlichen Auswirkungen von Süßstoffen ist dem Ernährungsmediziner zufolge das Hauptproblem die Erfassung des Süßstoffkonsums. „Früher wurden dafür in Studien Ernährungsfragebögen verwendet, auf denen süßstoffgesüßte Getränke noch gar keine Rolle spielten. Light-Getränke werden erst seit einiger Zeit erfasst“, so Hauner.

Darüber hinaus unterscheiden sich die in der EU und in Nordamerika zugelassenen Süßstoffe chemisch sehr. „Doch in den Kohortenstudien sei meist nicht zwischen verschiedenen Süßstoffen unterschieden worden“, ergänzt Hauner.

Keine Süße als Alternative?

Trotz aller Einschränkungen geht die WHO auf Nummer sicher und empfiehlt als Alternative zu Zucker und Süßstoffen, die Süße der Ernährung insgesamt herunterzufahren, und das am besten schon von Kindheit an. Für den Einzelnen bedeutet das, wann immer möglich, auf ungesüßte Nahrungsmittel und Getränke zurückzugreifen. Auf Gesellschaftsebene müsse aber auch die Politik Maßnahmen ergreifen, um den Konsum von Zucker und Süßstoffen zu reduzieren.

Die Organisation hebt hier insbesondere den Zuckerkonsum von Babys und Kleinkindern hervor, da sich deren Geschmackspräferenzen noch in der Entwicklung befänden. Aber führt der frühe Verzehr von Zucker wirklich zu einer Prägung, die eine spätere Vorliebe für süße Kost begünstigt? „Das wird schon seit Jahren immer wieder diskutiert, aber ich kenne keine Datenlage, die zeigt, dass es dafür einen über Gewohnheit hinausgehenden physiologischen Mechanismus gibt“, erklärt Hauner.

Empfehlung gilt nicht für Menschen mit Diabetes

Die neue Richtlinie der WHO richtet sich an Kinder und Erwachsene. Menschen mit Diabetes sind von der Empfehlung, keine Süßstoffe zu verwenden, aber ausgenommen. Die Empfehlung bezieht sich auch nur auf Süßstoffe, die über Lebensmittel oder Getränke aufgenommen werden. Medikamente oder Hygieneprodukte, die ebenfalls kleine Mengen Süßstoff enthalten können, sind demnach unbedenklich.

Darüber hinaus rät die Organisation nur von kalorienfreien Süßstoffen wie Aspartam, Saccharin, Stevia und Sucralose ab. Zuckeralkohole und niedrigkalorische Zucker erhalten keine Negativempfehlung. Ob das auch künftig so bleiben wird, ist fraglich.

„Zuckeralkohole wie Erythrit oder Sorbit – man kennt sie noch von früher aus der Diabetikerschokolade – kommen in der Natur und damit auch in unserer normalen Kost vor, allerdings in sehr geringen Mengen“, erklärt Hauner.

Auch Zuckeralkohole stehen auf der Kippe

Nun wurden Zuckeralkohole von der Industrie als Zuckerersatzstoffe wiederentdeckt: Während Süßstoffe für Getränke gut geeignet sind, fehlt ihnen das für viele andere Lebensmittel wie etwa Backwaren nötige Volumen. „Die Mengen an Zuckeralkoholen, die benötigt werden, um Zucker zu ersetzen, sind hoch. Sie sind deutlich höher als sie sonst natürlicherweise in unseren Lebensmitteln enthalten sind“, so Hauner.

 
Die Mengen an Zuckeralkoholen, die benötigt werden, um Zucker zu ersetzen, sind hoch. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Zwar seien die Zuckeralkohole alle für den menschlichen Verzehr zugelassen, aber man wisse nicht ausreichend über die langfristigen Auswirkungen Bescheid, insbesondere bei Menschen ohne Diabetes. „Beim Erythrit steht jetzt zum Beispiel der Verdacht im Raum, dass es Thrombosen und Atherosklerose fördern könnte“, so Hauner.

Experte: Verzicht nicht nötig, aber Mäßigung

Angesichts der derzeit noch „chaotischen Datenlage“ rät der Münchner Ernährungsmediziner sowohl beim Einsatz von Süßstoffen als auch bei der Verwendung von Zucker Mäßigung walten zu lassen. Die Studienlage deute darauf hin, dass Süßstoffe gesundheitliche Nachteile haben könnten, aber „wenn jemand hin und wieder gerne eine Cola light trinkt, dann wäre ich der Letzte, der es als sinnvoll ansehen würde, das zu verbieten“, betont Hauner.

 
100 Gramm am Tag ist zu viel, das braucht kein Mensch, im Gegenteil, das ist schädlich, davon müssen wir herunterkommen. Prof. Dr. Hans Hauner
 

Und was den Zucker angeht? „100 Gramm am Tag ist zu viel, das braucht kein Mensch, im Gegenteil, das ist schädlich, davon müssen wir herunterkommen“, sagt Hauner. Akzeptabel seien bis zu 50 Gramm am Tag (etwa 10 Teelöffel), was bei einem durchschnittlichen Erwachsenen mit einer Energiezufuhr von 2000 kcal etwa 10 Energieprozent sind.

Das entspricht auch der Zuckerempfehlung der WHO von 2015 und dem was viele Experten und Fachgesellschaften als „vernünftiges Maß“ ansehen. „In dieser Menge ist Zucker nicht schädlich“, so Hauner.

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