„Brisanter Datensatz“: Assoziation zwischen Süßungsmittel und kardiovaskulären Erkrankungen – Experten warnen (noch) nicht vor Erythrit

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

13. März 2023

Der Zuckeraustauschstoff Erythrit gilt als gut verträglich und wird häufig verwendet, um Lebensmittel kalorienfrei zu süßen. Doch eine in Nature Medicine publizierte Studie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Süßungsmittel und einem erhöhten Risko für Herz-Kreislauf-Ereignisse sowie einer verstärkten Blutgerinnung bei Patienten mit bereits hohem kardiovaskulärem Risiko her [1].

 
Unsere Ergebnisse zeigen, dass Erythrit sowohl mit dem Auftreten schwerer kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert ist als auch einen Effekt auf die Blutgerinnung zu haben scheint. Marco Witkowski
 

„Künstliche Süßungsmittel sind als Ersatz für Zucker weit verbreitet, aber wir wissen kaum etwas über ihre langfristigen Effekte auf das Risiko für kardiometabolische Erkrankungen“, schreiben Erstautor Marco Witkowski vom Department of Cardiovascular and Metabolic Sciences an der Cleveland Clinic, Cleveland, USA, und seine Kollegen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Erythrit sowohl mit dem Auftreten schwerer kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert ist als auch einen Effekt auf die Blutgerinnung zu haben scheint.“

 
Dieses Ergebnis kann – wie viele andere ähnliche Resultate … – zu weiten Teilen auf Scheinkorrelationen und Störgrößen beruhen. Dr. Stefan Kabisch
 

Einen Grund, vor Zuckeraustauschstoffen wie Erythrit zu warnen, sieht Dr. Stefan Kabisch von der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin der Charité - Universitätsmedizin Berlin basierend auf den Studienergebnissen aber nicht. „Dieses Ergebnis kann – wie viele andere ähnliche Resultate zu Süßstoffen, rotem Fleisch oder selbst Zucker – zu weiten Teilen auf Scheinkorrelationen und Störgrößen beruhen“, betont er.

Adipöse greifen eher zu kalorienfreien Süßungsmitteln

Typischerweise seien Personen, die viel kalorienfreie Süßungsmittel wie Erythrit verwendeten, adipöser, metabolisch kränker und hätten einen insgesamt ungesünderen Lebensstil. „All diese Faktoren könnten die eigentlichen Ursachen für das höhere kardiovaskuläre Risiko sein, während Erythrit ‚nur zufällig‘ miterhöht ist“, so der Berliner Ernährungsexperte.

Und dennoch: Die Forschungsgruppe – an der auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Berliner Charité beteiligt waren – zog ihre Ergebnisse nicht nur aus Kohortenstudien. Sie führten auch eine kleine Interventionsstudie sowie Laboranalysen durch – mit Mäusen und Menschen. Und diese zeigten, bei kleinen Fallzahlen und sehr hoher Erythritdosis, dass die Erythritzufuhr tatsächlich bestimmte Gerinnungsprozesse stimuliert. Das wiederum „untermauert eine tatsächlich kausale Rolle von Erythrit jenseits der reinen statistischen Assoziation“, räumt Kabisch ein.

Erythrit

Erythrit (Erythritol oder E 968) ist ein Polyalkohol mit einem C4-Grundkörper und gehört zu den Zuckeralkoholen. Er wird in sehr geringen Mengen vom Körper selbst gebildet. In der Natur kommt er in Obst und Pilzen vor, auch in fermentierten Lebensmitteln ist er zu finden. Erythrit hat einen süßen Geschmack, der bei circa 50 bis 80% der Süße von Zucker liegt. Der menschliche Körper nimmt Erythrit über den Dünndarm auf, kann es aber nicht verstoffwechseln, weshalb es fast vollständig über die Niere wieder ausgeschieden wird.

Erythrit ist in Europa und den USA als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen. Bewertungen des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses der Europäischen Union sowie zuletzt im Jahre 2015 der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit ergaben keine gesundheitlichen Bedenken gegen die Verwendung von Erythrit. Bei Produkten, die zu mehr als 10% aus Zuckeralkoholen bestehen, muss lediglich darauf hingewiesen werden, dass sie bei übermäßigem Verzehr abführend wirken können.

Somit stellt Erythrit einen von derzeit 8 in der EU zugelassenen Zuckeraustauschstoffe dar und darf bestimmten industriell gefertigten Lebensmitteln ohne Mengenbegrenzung zugesetzt werden.

Assoziation bei Menschen mit hohem kardiovaskulärem Risiko

Die Forschenden untersuchten zuerst Blutproben einer Kohorte von 1.157 Personen, die ein hohes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen hatten. Bei denjenigen, die über den Beobachtungszeitraum von 3 Jahren eine schwerwiegende kardiovaskuläre Komplikation entwickelten – Myokardinfarkt, Schlaganfall, Tod – stießen sie im Plasma auf eine gesteigerte Konzentration einiger Zuckeralkohole (Polyole), darunter insbesondere der Zuckeraustauschstoff Erythrit.

Diese zunächst qualitativen Annahmen bestätigten sich in weiteren Analysen zweier Validierungskohorten mit weiteren Personen, die ebenfalls eine hohe Prävalenz von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kardiovaskulären Risikofaktoren aufwiesen. Eine Kohorte stammte aus den USA und umfasst 2.149 Probandinnen und Probanden, die zweite europäische Kohorte umfasste 833 Personen aus Deutschland.

Bei denjenigen im obersten Viertel der Erythritkonzentration im Plasma betrug – im Vergleich zu denjenigen mit den niedrigsten Erythritkonzentrationen – die Hazard Ratio für schwere kardiovaskuläre Ereignisse 1,80 (US-Kohorte) beziehungsweise 2,21 (europäische Kohorte).

Eine Limitation der Studie ist, dass keine Vergleichskohorte ohne erhöhtes kardiovaskuläres Risiko untersucht wurde.

Effekt auf die Blutgerinnung

„Der interessante Ansatz dieser Arbeit ist, dass die Autoren zunächst hypothesenfrei nach Metaboliten im Blut gesucht haben, die in einer Hochrisikokohorte über einen dreijährigen Beobachtungszeitraum Menschen mit einem kardiovaskulären Ereignis von denen ohne ein solches Ereignis unterscheiden“, erklärt Prof. Dr. Hans Hauner, Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, Technische Universität München. „Unter den identifizierten Polyolen war der Zuckeralkohol Erythrit der ‚Topkandidat‘ und wurde weiter analysiert.“

Weitere Laboruntersuchungen, bei denen Erythrit zu Blut oder Thrombozyten gegeben wurde, zeigten eine beschleunigte Gerinnung. Mit steigender Konzentration von Erythrit kam es zu einer Aggregation von Thrombozyten, die den entscheidenden Mechanismus für Thrombusbildung und Gefäßverschluss darstellt. Dies wurde zusätzlich durch ein Tierexperiment an Mäusen nach Gabe von Erythrit bestätigt.

Warnung vor weitreichenden Schlussfolgerungen

Zuletzt wurde eine prospektive Interventionsstudie mit 8 gesunden Personen durchgeführt, die ein mit 30 g Erythrit gesüßtes Getränk zu sich nahmen. Der Süßungsmittelgehalt dieses Getränks ist laut Studie vergleichbar mit einer Dose handelsüblichem künstlich gesüßten Getränk oder 500 Milliliter Diät-Eiscreme. Der Verzehr dieses Getränkes erhöhte den Erythritspiegel im Blut über einen Zeitraum von 2 Tagen so sehr, dass er laut der Forschenden weit über der Schwelle lag, bei der zuvor signifikante Hinweise auf eine veränderte Thrombozytenaktivität beobachtet wurden.

 
Damit liegt ein umfangreicher … Datensatz vor, der … ernst zu nehmen ist. Es sind aber viele Fragen offen und sollten zügig geklärt werden, bevor weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden können. Prof. Dr. Hans Hauner
 

„Damit liegt ein umfangreicher und eindrucksvoller Datensatz vor, der aus klinischer Perspektive brisant und ernst zu nehmen ist. Es sind aber viele Fragen offen und sollten zügig geklärt werden, bevor weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden können“, betont Hauner.

Moderater Verzehr ist nicht „toxisch“

Was aus heutiger Sicht in Kenntnis der Ergebnisse dieser neuen Studie und anderer Befunde zu diesem Thema geraten werden kann, ist dem Münchner Ernährungsmediziner zufolge relativ trivial: „Ein mäßiger Konsum von Zucker (Saccharose) von weniger als 5 bis 10% der Gesamtenergiezufuhr, also 25 bis 50 g Zucker täglich für einen erwachsenen Menschen, ist akzeptabel und unbedenklich. Bei der Verwendung von Zuckerersatzstoffen, welcher Art auch immer, haben wir zwar viele und teilweise widersprüchliche Kurzzeitbefunde, wissen aber sehr wenig über mögliche Langzeitfolgen, nicht nur mit Blick auf Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Krankheiten, sondern auch auf das Krebsrisiko.“

Aber auch hier gelte derzeit, dass „ein moderater Verzehr damit gesüßter Lebensmittel und Getränke nicht ‚toxisch‘“ sei, so Hauner.

Auch zugelassene Zusatzstoffe sollten unter die Lupe genommen werden

Und Kabisch ergänzt: „Der Wechsel zurück zum Zucker ist vermutlich nicht der gesündere Weg.“ Sein Fazit: „Die Publikation ist ein wichtiger, ja überfälliger Impuls dafür, auch bereits zugelassene Nahrungsmittelzusatzstoffe wie Süßungsmittel intensiver zu beforschen und dabei jenseits von reinen Beobachtungsdaten auch mechanistische Experimente im Zellmodell, an Versuchstieren und mit menschlichen Probanden einzubeziehen. Eine eindeutige Bewertung von Substanzen, die natürlicherweise nicht in relevanter Dosis Teil einer gesunden Ernährung sind, ist nur in der Gesamtschau solcher komplexen Studien möglich.“

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